Diese Frage hören wir immer wieder einmal als Vorwurf an Christen formuliert. Derzeit könnten wir uns fragen, warum lässt Gott die Corona-Pandemie zu? Gläubige und Ungläubige leiden gleichermaßen unter ihr. Was denkt sich Gott dabei? Es wäre doch schön, wenn ein Leben aus dem Glauben vor Krankheit, Unglück und Not beschützen könnte. Warum greift Gott nicht ein, wenn er Unschuldige leiden sieht?
Vielleicht müssen wir uns der Frage anders nähern. Dabei kann uns die Lebensgeschichte von Josef, einem von zwölf Söhnen des Stammvaters Jakob, helfen. Er ist er elfte von zwölf Söhnen des Jakob. Jakob hatte zwei Frauen und zwei Nebenfrauen. An dieser Stelle ist es nicht wichtig, wie es zu dieser Patchwork-Familie gekommen ist. Streit in der Familie war vorprogrammiert, denn Jakob hatte von jeder der vier Frauen Söhne.
Josef ist der ältere von den zwei Söhnen Rahels, der Lieblingsfrau des Jakob. Er ist der Liebling seines Vaters, weil er ihm noch im Alter geboren wird. Jakob lässt Josef einen bunten Rock machen, schon für diese Bevorzugung beneiden ihn seine Brüder.
Josef merkt dies aber nicht und erzählt den Brüdern seine Träume. Die Träume scheinen ihn zum Mittelpunkt der Familie zu machen, dafür rügt ihn selbst sein Vater. Seine Brüder halten ihn für arrogant und selbstverliebt, Hass und Eifersucht machen sich immer mehr in ihren Herzen breit.
Josef selbst scheint nicht wahrzunehmen, wie seine Träume auf seine Brüder wirken. Sie hassen ihn schließlich so sehr, dass sie ihn bei einer günstigen Gelegenheit als Sklaven nach Ägypten verkaufen und den Eltern erzählen, er sei von wilden Tieren getötet worden. Sie wollten nie wieder etwas mit ihm zu tun haben.
Wenn wir die Familiengeschichte unter die Lupe nehmen, dann stellen wir fest: Die Familie ist hinsichtlich Brüderstreitigkeiten vorbelastet. Aber jetzt erreicht die Familientragödie ein neues, bisher noch nicht da gewesenes Ausmaß.
Versetzen wir uns in Josef. Er ist der Liebling seiner Eltern. An einem Tag verliert er alles, was sein Leben ausgemacht hat: Die Liebe seiner Eltern; seine Kultur; die gewohnte Nahrung; die Möglichkeit mit anderen zu reden, weil er die fremde Sprache nicht kennt; seine Freiheit und das Schlimmste, jegliche Hoffnung auf Rückkehr.
Er ist jetzt ein Sklave von Potifar, dem Obersten der Leibwache des Pharao in Ägypten. Dennoch versucht er aus seinem Restleben das Beste zu machen und gewinnt das Vertrauen seines Herrn. Doch dann beschuldigt ihn zu Unrecht die Frau des Potifar, dass er sie vergewaltigt habe. Er wird wegen Vergewaltigung verurteilt und für mehrer Jahre ins Gefängnis geworfen. Aber auch jetzt zerbricht er nicht an dem ihm widerfahren Unrecht.
Im Gefängnis ist es wieder seine rechtschaffene Art, die ihn die Freundschaft des Kerkermeisters gewinnen lässt. Schließlich deutet er dem Mundschenk und dem Bäcker des Pharao, die ebenfalls ins Gefängnis kommen, die Träume. Dem Bäcker sagt er das Todesurteil voraus, dem Mundschenk die Freilassung. Es kommt so, wie Josef es vorausgesagt hat, der Bäcker wird hingerichtet und der Mundschenk freigelassen. Josef bittet ihn, ihn nicht zu vergessen, wenn er wieder in sein Amt eingesetzt ist.
Für kurze Zeit darf er hoffen, aber der Mundschenk vergisst schlechtweg die Bitte Josefs. Tage, Wochen, Monate vergehen und langsam schwindet seine Hoffnung frei zu kommen. Vergessen von seiner Familie und der Welt, verbringt er etwa 13 Jahre in Sklaverei und im Gefängnis.
Als er 30 Jahre ist, scheint sein Leben, eine einzige Tragödie gewesen zu sein. Wenn es jemanden gibt, der wegen des ihm zugefügten Schadens und Unrechts voller Bitterkeit und Wut gegen seine Familie und die Frau des Potifar sein konnte, dann Josef. Wenn es jemanden gibt, der darüber klagen konnte, dass Menschen sehr schnell vergessen, dann Josef. Doch selbst als ihm all dies widerfährt und jeglicher Versuch, Kontrolle über sein Leben zurück zu erhalten, scheitert, bleibt Josef ruhig.
Dann passiert das Unglaubliche. Weil der Pharao träumt und niemand seine Träume deuten kann, erinnert sich der freigelassene Mundschenk an Josef im Gefängnis. Jetzt wird er aus dem Gefängnis geholt und gebeten, die Träume des Pharao zu deuten. Weil er dies kann, wird er über Nacht zum zweiten Mann an der Spitze Ägyptens, der damaligen Supermacht der Welt.
Wenig später treibt eine Hungersnot in Palästina seine Brüder nach Ägypten, um Getreide zu kaufen. Josef erkennt seine Brüder, verspürt aber keinen Hass, sondern weint, weil sich Liebe für sie in seinem Herzen regt. Jetzt versteht er die Fügung Gottes in seinem Leben: Sein scheinbar so verkorkstes Leben wird zum Segen für seine Familie. Und so kann er jener Familie, die ihn betrogen und verraten hatte, mit Achtung und Großzügigkeit begegnen.
Josef hätte in all den Jahren Anlass gehabt, sich selbst einzureden: ‚Es ist besser, wenn ich nicht lebe! Mein Leben ist ein einziger Fehler! Ich bin nutzlos! Ich kann keinem Menschen vertrauen! Ich sollte kein Risiko mehr eingehen und keine Kraft in positive Gefühle investieren! Es ist zu schmerzhaft! Ich bin ein Verlierer.’ Aber gerade das tut er nie.
Josef hätte sich an der Frau des Potifars rächen können, weil sie ihn unschuldig ins Gefängnis gebracht hat. Aber auch das tut er nicht.
Josef hätte im Zorn seine Brüder vernichten können, als sie vor ihm standen, sie hätten ihn nicht einmal erkannt. Aber er tut es nicht!
Er nimmt das Schicksal, das er nicht ändern kann, an und wird zum Segen seiner Familie. Er nimmt sein Schicksal an und so überlebt seine Familie die Hungersnot. Er nimmt sein Schicksal zu einem Zeitpunkt an, da sein Leben dunkel und sinnlos erscheint, da er den Ausgang noch nicht kennt.
Vielleicht verstehen wir jetzt, warum die Christen in der Geschichte des Josef das Leben Jesu angekündigt sahen. Weil Josef sein Schicksal annimmt, wird er zum Segen für seine Familie und sichert ihr irdisches Leben. Jesus geht bewusst durch Leid und Tod und wird zum Segen für die Welt, er sichert uns das ewige Leben.
Für uns heißt das: Als Christen wissen wir, dass Jesus das Leid nicht abgeschafft hat, sondern unausweichlichem Leid einen Sinn gegeben hat. Als Christen wissen wir, dass zu glauben nicht bedeutet immer gesund zu sein und Vorteile zu erfahren. Als Christen wissen wir vielmehr, dass ein unausweichliches Schicksal zum Segen wird, wenn wir es geduldig annehmen.