Der Kleidertausch
Vor vielen Jahrhunderten lebte im Orient ein christlich gewordener König. Ihn quälte die Frage: Wie Gott ist? So entschloss er sich eines Tages, Herolde durch das ganze Land zu schicken und alle Weisen, Priester und Theologen zu einem gemeinsamen Treffen in seinen Palast einzuladen.
So versammelten sich die Weisen, Priester und Theologen seines Reiches bei ihm. Nachdem der König für ihre Unterkunft und ihr leibliches Wohl gesorgt hatte, bat er sie in den Thronsaal. Hier sollten sie vor ihm die Frage erörtern: Wie ist Gott? Der König drückte seine Freude aus, dass sie alle seiner Einladung gefolgt waren, und seine Hoffnung, dass er eine Antwort auf seine Frage bekommen würde.
Doch zu seinem Entsetzten musste er feststellen, wie sehr die Meinungen auseinandergingen. Der eine betonte die Allmacht Gottes, die mit einem Wort Himmel und Erde ins Dasein gerufen habe und die all das jeden Augenblick im Dasein erhält. Ein anderer hielt dem entgegen, dass er als ohnmächtiges Kind in der Krippe gelegen habe und ganz auf die Fürsorge Marias und Josefs angewiesen gewesen war.
Ein Philosoph beschrieb ihn als den unbewegten Beweger, der über allem, was er geschaffen hat, thront und der in seinem Glück nicht auf den von ihm geschaffenen Menschen angewiesen ist. Ihm entgegnete wieder ein anderer Philosoph, dass Gott nicht nur über allem thront, sondern sich aus Liebe am Kreuz annageln habe lassen und für uns gestorben sei. Gerade darin bestünde doch die Erlösung.
Ein Theologe betonte Gottes Reichtum, denn schließlich gehöre alles Geschaffene Gott. Ohne ihn könnte es nicht einmal existieren. Dem hielt ein anderer Theologe entgegen, Gott liebe die Armut, sonst wäre er nicht als Kind in einem Stall geboren worden.
Immer wenn einer der Anwesenden eine These aufstellte, widersprach ihm ein anderer mit seiner These. Dies verwirrte den König sehr, denn all seine Theologen, Priester und Weisen schienen keine gemeinsame Antwort auf seine Frage zu haben: Wie ist Gott? Nach einigen Stunden war er so frustriert, dass er sie nicht nur aus dem Thronsaal schickte, sondern sie nach Hause entließ. Es würde nichts bringen, sich noch tagelang diese unfruchtbaren Debatten anzuhören, dachte er bei sich.
Als sich der Thronsaal langsam leerte, bemerkte der König einen einfachen Bettler hinten im Saal. Der König war überrascht, dass auch ein Bettler zu dieser Diskussion gekommen war, und ging auf ihn zu. Er fragt ihn, was er hier mache. Darauf antwortet ihm der Bettler: „Auch wenn die Augen des Königs nicht in der Lage sind, Gott zu sehen, so kann ich ihm doch wenigstens zeigen, wie Gott handelt.“
Da wurde der König sehr neugierig und wollte mehr wissen. Dazu müssten sie aber für zwei Tage die Kleider tauschen, meinte der Bettler. Der König wollte sich gerade über den Vorschlag des Bettlers empören, da kam ihm der Bettler zuvor und sagte: „Genau das hat doch Gott auch getan! Gott hat unser Gewand angezogen: den Schmerz und die Freude des Menschseins; den Hunger, den Durst, die Müdigkeit, die Hoffnungen und Enttäuschungen; die Angst vor dem Sterben, all unsere Not bis in den Tod hinein“, fuhr der Bettler fort. „Und dafür hat er uns sein ‚Kleid der Gnade‘ angezogen“.
Der König war über die Weisheit des Bettlers so überrascht, dass er nach kurzem Zögern dem Kleidertausch zustimmte. Und so reichte der König dem Bettler seine königlichen Gewänder und zog die einfachen Gewänder des Bettlers an. Der König verließ das Schloss, keiner erkannte ihn mehr und keiner beachtete ihn, das stimmte ihn schon traurig.
Zum ersten Mal in seinem Leben musste er um etwas zu Essen und zu Trinken betteln. Niemand fragte ihn, ob er einen Wunsch habe. Im Gegenteil, er erfuhr Ablehnung und Verachtung. Als es Dunkel wurde suchte er sich einen versteckten Schlafplatz. Jetzt hoffte er, dass ihn niemand erkannte. In dieser Nacht fror der König zum ersten Mal in seinem Leben.
Im Gegenzug musste sich der Bettler im Schloss um nichts kümmern, alle dienten ihm und erkundigten sich nach seinem Wohlbefinden. Der Kleidertausch hatte einen Schicksalstausch mit sich gebracht.
Als der König nach zwei Tagen zurück in sein Schloss kam, wollten die Wachen ihm nicht glauben und ihn nicht in sein Schloss lassen. Doch der Bettler bestätigte den Wachen, dass es der König sei und so kam er zurück in sein Schloss. Als sie die Kleider wieder getauscht hatten, fragte der König nachdenklich den Bettler: „Warum, glaubst du, hat Gott das gemacht? Er hat so viel Entbehrungen, Verachtung, Hunger und Durst auf sich genommen.“
Darauf antwortete ihm der Bettler: „Weil er uns liebt! Und er ist ein kleines Kind geworden, weil er geliebt werden will. Gott weiß, wir Menschen können nicht anders, wenn wir kleine Kinder sehen, wir lieben sie. Er wirbt als Kind um unser Herz und lässt uns dabei doch die Freiheit. Er lässt uns Luft zum Atmen, er will Partner, nicht Sklaven.“
Der König dankte dem Bettler und sagte: „Dir ist gelungen, was den Weisen, Priestern und Theologen nicht gelungen ist. Ich weiß jetzt, wie Gott ist!