25. April 2024

Kirchenmitglieder jetzt in der Minderheit

Was heißt das für Europa?

„Kirchenmitglieder jetzt in der Minderheit“, so titelte die Allgäuer Zeitung am 13. April 2022. Ob sie schon recht hat oder noch nicht, wir laufen auf diesen Zeitpunkt zu: In naher Zukunft werden die Christen, die in einer Kirche gebunden sind, in Deutschland in der Minderheit sein, das ist gewiss.

Was in Europa im Gange ist, ist ein schleichender Abfall vom Christentum. Intellektuelle sehen im Christentum oft eine Gefahr für den säkularen Staat, ein Hindernis für das gesellschaftliche Zusammenleben der verschiedenen Kulturen und Religionen, für die wissenschaftliche Forschung.

Folgerichtig wurde in der europäischen Verfassung es wissentlich vermieden, die jüdisch-christlichen Wurzeln Europas zu erwähnen. Der Liberalismus wird heute meist mit Säkularismus gleichgesetzt. Der Säkularismus hält übernatürliche Erklärungen für nicht notwendig und gibt sich mit rein innerweltlichen Begründungen zufrieden.

Aber wie kann man letzten Endes übersehen, dass ohne die katholische Kirche Europa mehrmals von der Bildfläche verschwunden wäre? Dass der Westen seine Kultur nicht hätte? Dass das Christentum sich aufgelöst hätte und mit ihm die Ethik der Liebe, der Brüderlichkeit, des Mitleids, der Nächstenliebe verloren gegangen wären?

Marcello Pera, Warum wir uns Christen nennen müssen, S. 47

Seit Jahren lebt Europa aufgrund eines ständig wachsenden Fachkräftemangels von der Einwanderung. Uns fremde Sitten der Immigranten werden selbst dann akzeptiert, wenn sie eigenen Vorstellungen widersprechen. Z. B. verlangt der Tierschutz, dass ein Tier betäubt wird, bevor es geschlachtet wird, aber aus religiösen Gründen darf man ein Tier schächten.

Neue Rechte werden anerkannt, obwohl sie grundlegende christliche Werte berühren. So wird alterndem Leben das Selbstbestimmungsrecht durch die Patientenverfügung zugestanden, wenn es sich nicht mehr artikulieren kann, werdendem Leben hingegen wird der Schutz durch den Staat für medizinische und eugenische Zwecke immer weiter entzogen. Der Mensch hat die Möglichkeit, über sein Altern zu entscheiden, nicht aber über sein Werden.

Beunruhigend ist die Aussicht auf eine Praxis merkmalsverändernder genetischer Eingriffe, die die Grenzen des grundsätzlich kommunikativen Verhältnisses zwischen Arzt und Patient, Eltern und Kindern überschreitet und die mit der eugenischen Selbsttransformation unsere normativ strukturierten Lebensformen untergräbt.

Jürgen Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur, S. 116.

So ist es z.B. im Vereinigten Königreich zu „staatsfreien Bereichen“ gekommen mit einer besonderen Rechtssprechung, die nicht mit der nationalen vereinbar ist. Der Islamische Scharia-Rat in London soll als Schlichtungsstelle für sunnitische Einwanderer dienen.

Die islamische Rechtsprechung billigt dem Mann deutliche Vorteile gegenüber der Frau zu, wenn es um Fragen der Erbschaft, Scheidung und des Sorgerechts geht (das Familienrecht i. w. S. hat den größten Anteil an vor britischen Scharia-Gerichten verhandelten Fällen). Frauen, die sich bspw. in Scheidungsfällen nicht an ein rechtsstaatliches Familiengericht wenden, riskieren daher eine deutlich schwächere Rechtsposition und für sie ungünstige Urteile. Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund problematisch, da davon auszugehen ist, dass sozialer Druck und Repression im fundamentalistisch geprägten Umfeld zu einer Präferenz religiöser Gerichtsbarkeit in Familienangelegenheiten führen.

https://de.wikipedia.org/wiki/Islamischer_Scharia-Rat

Das Ergebnis besteht in der Summe darin, dass in einem Europa ohne Gott die Europäer ohne Identität zusammenleben.

Der Multikulturalismus und die Toleranz haben aber Konflikte nicht verhindern können. Vielmehr spiegeln sich mehr und mehr alle Konflikte weltweit auf unseren Straßen. Je weniger sich die Menschen mit der christlichen Idee vom Menschen als Ebenbild Gottes identifizieren, umso radikalere Ansichten über den Staat fassen Fuß. Bei Regierten breitet sich Unsicherheit, Verwirrung, Orientierungslosigkeit und Unbehagen aus.

Was ist Europa? Welchen Idealen, Werten, Lebensstilen folgt es?

Die Zeit des Absolutismus war geprägt von der Einheit von Thron und Altar, dem gegenüber dürfen wir es als eine große politische Errungenschaft ansehen, dass die Institutionen des Staates ein offenes Haus sind, in dem jeder mit jedem anderen zusammenlebt und niemand aufgrund seines religiösen Glaubens diskriminiert oder ausgeschlossen wird.

Aufgrund seiner Natur will sich der liberale Staat nicht in die autonomen Entscheidungen seiner Bürger einmischen, er schreibt keinen eigenen religiösen Glauben vor und untersteht keiner kirchlichen Autorität. Aber ist es so einfach?

Religionen haben aufgrund ihrer Natur eine öffentliche Dimension und streben danach, den öffentlichen Entscheidungen eine Richtung zu geben. Wer einen Glauben hat, empfängt von ihm Belehrung und Orientierung, nicht nur für das eigene Leben, sondern auch für die Gestaltung der Gesellschaft.

Wie soll sich der Staat verhalten, wenn sich unterschiedliche religiöse Gruppen an ihn wenden? Ist es möglich, dass der Staat unabhängig und neutral gegenüber den religiösen Glaubensüberzeugungen bleibt, ohne die Gottlosigkeit zur Religion zu machen?

Wenn jemand die Abtreibung ablehnt, weil sie nach den Grundsätzen seiner Religion die Heiligkeit des Lebens verletzt, wäre es nicht liberal, ihn daran zu hindern, diese Meinung in der Öffentlichkeit zu äußern.

Hier findet sich der liberale Staat in einem unangenehmen Dilemma. Egal wie er sich entscheidet, er ist kein liberaler Staat mehr, weil er sich einmischt.

Oder er überlässt die Entscheidung einfach dem freien Gewissen der Bevölkerung, dann bleibt er liberal, verliert aber seine Autorität.

Man kann antiklerikal sein (wenn der klerikale Herrschaftsanspruch wiederaufleben würde). Man kann säkular sein (im Hinblick auf die Trennung von Staat und Kirche). Aber kann man auch antichristlich sein?

Und können die Freiheiten einer Nation für sicher gehalten werden, wenn wir ihre einzige feste Basis beseitigt haben, eine Überzeugung im Geist des Volkes, dass diese Freiheiten von Gott geschenkt sind? Und dass sie nicht verletzt werden können, ohne dass sein Zorn erregt wird.

Thomas Jefferson, dritter Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, zitiert aus Marcello Pera, Warum wir uns Christen nennen müssen, S. 49

Ohne Glauben an die Gleichheit aller Menschen, an ihre gleiche Würde, an ihre Freiheit und Verantwortlichkeit, mit einem Wort: ohne eine Religion des Menschen als Kind und Bild Gottes — was das Wesen der jüdisch – christlichen Religion ist — können der Liberalismus, die Demokratie, die fundamentalen und universalen Rechte der Menschen nicht aufrechterhalten werden, noch können sie hoffen, dass die Menschen dauerhaft in einer liberalen Gesellschaft zusammenleben werden.

Nur wenn diese Rechte als ein „Geschenk Gottes“ angesehen werden, nur wenn diese Rechte dem Menschen zustehen, weil er ein Mensch ist und nicht weil er Bürger eines bestimmten Staates ist, der ihm diese Rechte zuspricht, sind sie nicht der Willkür der Gesetzgeber ausgeliefert, nur dann wenn sie in Gott gründen, dann sind sie unverhandelbar. Das ist der Kern eines liberalen Staates.

Die Freiheit des Menschen leitet sich ab aus der Wahrheit über den Menschen: aus der Tatsache, dass Gott ihn ins Zentrum der Welt gestellt hat, dass er ihn nach seinem Bilde geschaffen hat, dass er ihm als Mensch Würde verliehen hat, dass er ihn mit Vernunft begabt hat, damit er für seine Handlungen verantwortlich ist, dass er ihn zum Bruder eines jeden anderen Menschen gemacht hat.

Damit die individuelle Freiheit sich nicht in Willkür und Gewalt verwandelt und die Gesellschaft nicht zerstört, braucht sie ein Gefühl für ihre Grenze: für die Sünde, das Verbotene, das nicht zu Überschreitende, das nicht Verhandelbare. Diese Grenze kann nicht durch ein von Menschen erlassenes Gesetz vorgegeben werden, weil ein solches Gesetz immer auch wieder außer Kraft gesetzt werden könnte. Es bedarf einer moralischen Grenze, die religiös ist. Es ist die Grenze, sich nicht an die Stelle Gottes zu setzen und Gottes Willen zu respektieren. Menschenrechte können sich nie gegen Gott richten, sonst höhlen sie das Fundament aus, auf dem sie stehen.

Der Liberalismus erhebt Ansprüche, die für alle Menschen gelten, egal wo sie leben, und für die Liberalen sind die Menschenrechte wie die Naturgesetze für die Naturwissenschaftler: einmal zu einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort von einer bestimmten Person entdeckt (nicht erfunden!), gelten sie immer und für alle. Liberalismus ohne das Christentum löst sich auf. Auch der Liberalismus muss diese Grenze anerkennen, sonst stellt er sich selbst in Frage.

Man muss Europa eine Seele geben. … Wenn es uns in den nächsten zehn Jahren nicht gelingt, ihm eine Seele zu geben, eine Spiritualität, eine Bedeutung, dann werden wir die Partie Europas verloren haben.
Der Beitrag des Christentums bleibt wesentlich, und zwar genau wegen der Weisheit, von der sich seine Sicht des Menschen und des Rufes zu einer Erneuerung nährt, die den Werten treu bleibt, die uns vom Evangelium als Erbe gegeben worden sind.

Jacques Delors, Präsident der Europäischen Kommission am 6. Februar 1992

Damit Europa eine Nation oder ein Staat wird, braucht es eine Seele.

Europa kann sich nicht entwerfen, wenn es seine Erinnerung vergisst, und zu dieser Erinnerung gehört die bleibende Spur des Christentums. In den verschiedenen Kulturen der europäischen Nationen, in den Künsten, in der Literatur, in der Hermeneutik des Denkens liegt der christliche Ursprung, der Gläubige und Nichtgläubige nährt.

Romano Prodi, Präsident der Europäischen Kommission am 4. Oktober 1999

Wenn Europa sich vereinen soll, braucht es eine Seele, etwas, was die europäische Identität ausmacht. Ohne Identität kann man einen Markt errichten, eine Börse, eine Bank, einen Gerichtshof, vielleicht auch eine Universität, aber kein geeintes Europa. Europa braucht eine Identität, die es zu repräsentieren und zu verteidigen gilt. Der russische Präsident zwingt uns gerade rein äußerlich dazu, über unsere Identität als Europäer nachzudenken.

Warum helfen wir der Ukraine? Warum stärkt die Nato ihre Abwehrbereitschaft? Weil wir davon ausgehen, dass allen Menschen auf der Erde Menschenrechte zustehen, weil sie Menschen sind, und dass weder Putin noch Xi oder jemand anderer das Recht hat, sie Menschen abzusprechen.

Dieselbe Identität zu haben bedeutet, dieselbe ideelle Zugehörigkeit zu empfinden, Bande der Vertrautheit, der Solidarität, des Schicksals, der Pflichten wahrzunehmen, an erster Stelle die Liebe zu und den Respekt vor der eigenen Geschichte, der eigenen Tradition, dem eigenen Land. Identität heißt sich identifizieren, aber auch sich unterscheiden: Wer „wir“ sagt, grenzt sich allein dadurch schon von den „anderen“ ab.

Integrieren ist nicht das gleiche wie beherbergen oder angliedern. Integrieren heißt annehmen, dass es etwas gibt, eben eine Identität, der von uns so viel Wert zugeschrieben wird, dass wir auch von dem anderen, der mit uns lebt, erwarten, sie zu respektieren, hoch zu schätzen, zu teilen.

Man muss den christlichen Glauben vielleicht nicht selbst praktizieren, aber man muss den praktizierenden Christen sehr dankbar sein, denn ohne sie hätte sich das Christentum schon aufgelöst und damit hätte der liberale Staat und die Demokratie ihr Fundament verloren.

Man kann Nostalgie definieren als die Fähigkeit, darüber zu trauren, dass es heute nicht mehr so ist, wie es früher gar nicht war. Vom nostalgischen, bloß rückwärtsgewandten Schwelgen in alten Zeiten unterscheidet sich das Erinnern. Erst durch eine Kultur des Gedenkens können Ereignisse der Vergangenheit sinnvoll gedeutet und für die Zukunft fruchtbar gemacht werden. Werden wir uns unserer Wurzeln bewußt und gestalten wir die Zukunft.