20. April 2024

Perfektionismus

Oder wie werde ich heilig?

Wer möchte nicht alles perfekt machen? Wer möchte sich nicht in der Situation sonnen können, dass seine erbrachte Leistung unanfechtbar ist? Wer leidet nicht darunter ständig kritisiert zu werden? Wer fühlt sich nicht als Person, als Mensch in Frage gestellt, wenn man den anderen nichts Recht machen kann?

In einer gewinnorientierten Wirtschaft und Gesellschaft sind Fehler nicht nur unerwünscht, sondern ziehen oft auch beruflich negative Folgen für den Betroffenen nach sich. Hinzukommt, dass das Klima in der Arbeitswelt gewollt oder ungewollt auch Einfluss auf unser Privatleben nimmt.

So verwundert es uns nicht, wenn unsere moderne Gesellschaft mehr und mehr nach Perfektion strebt und dies eben nicht nur in der Arbeitswelt, sondern auch im persönlichen und privaten Bereich. Es gibt geradezu einen Markt an Literatur und Workshops dazu.

Kann man Perfektionismus nicht als gesellschaftliche Lesart des christlichen Heiligkeitsstreben verstehen? Auf diese Frage will der Beitrag eine Antwort geben, ohne zu beanspruchen, dass er alle denkbaren Aspekte berücksichtigt. Im folgenden werden der Perfektionismus und das christliche Vollkommenheitsstreben gegenübergestellt.

Ich will es vorwegnehmen, ich sehe im Perfektionismus eine materialistische Verdrehung des Vollkommenheitsstrebens, einen Irrweg für das geistliche Leben. Im menschlichen Leben gibt es nie ein ganz weiß oder ganz schwarz, sondern nur ein mehr oder weniger weiß oder schwarz. Wir alle sind mehr oder weniger perfekt. Das Ziel des Beitrags wäre schon erreicht, wenn Sie sich des Unterschieds bewusst werden.

Das Kreuz ist nicht nur das Zeichen unserer Erlösung, sondern auch starker Ausdruck der selbstlosen Liebe Gottes. Diese Liebe ist glücklicherweise nicht gewinn- und zeitoptimiert.

Ich will nun einige Unterschiede zwischen dem Perfektionismus und dem christlichen Vollkommenheitsstreben beschreiben.

  1. Ziel des Perfektionismus kann der fehlerlose Ablauf einer gestellten Aufgabe, die optimal genützte Zeit ohne Leerlauf oder auch die Optimierung meines persönlichen Verhaltens sein. Das Ziel des Perfektionismus ist irdisch.
    So sehr ein nach Vollkommenheit strebender Mensch auch versucht Fehler zu vermeiden, Zeit zu nützen und anderen nicht auf die Nerven zu gehen, das Ziel der christlichen Vollkommenheit ist das Einswerden mit Gott, dieses Ziel ist übernatürlich. Der Unterschied des Ziels mag nicht sofort ersichtlich sein, doch die Auswirkungen auf das Leben sind grundsätzlich verschieden.
  2. Wer vom Perfektionismus angetrieben wird, wird sein Ziel in letzter Konsequenz nie erreichen. Es mag gelingen, immer wieder perfekte Momente zu gestalten, Zeit optimal zu nützen, durch das eigene Verhalten andere zu gewinnen, aber im Allgemeinen spielen zu viele Faktoren mit, die immer wieder die Perfektion in Frage stellen. Ein Oberministrant kann die perfekte Ministrantenstunde vorbereitet haben, was aber, wenn er oder die anderen krank sind oder einfach nicht perfekt mitmachen? Ich kenne Manager, die auf Seminaren lernten, vor dem Schlafengehen den nächsten Arbeitstag zu bedenken, weil dann das Unterbewusstsein während des Schlafes weiter arbeiten würde. Sie haben diese Praxis nach wenigen Wochen wieder aufgegeben, weil ihnen so die notwendige Erholung im Schlaf fehlte. Bedenken Sie wie klug Ignatius von Loyola war, als er dazu riet am Abend vor dem Einschlafen etwas Geistliches zu erwägen.
    Ganz im Gegensatz dazu bleibt sich ein nach Vollkommenheit strebender Mensch bewusst, fehlerbehaftet zu sein und in einer fehlerhaften Umwelt zu leben. Er lebt nicht in der Illusion oder Utopie der irgendwann erreichten Fehlerlosigkeit. Selbst jene Menschen, die die Kirche offiziell als Heilige in den liturgischen Kalender aufgenommen hat, sind bis zum Ende ihres Lebens zur Beichte gegangen. Sie waren sich ihrer Fehler bewusst. Christliche Vollkommenheit ist also auf Erden nicht mit Fehlerlosigkeit gleichzusetzen.
  3. Wer nach Perfektion strebt, muss viele äußere Faktoren im Blick haben, wenn er sein Ziel nur annähernd erreichen will. Unbemerkt wird sein Selbstwertgefühl stark von äußeren Faktoren abhängig. Weshalb werden so viele Selfies aufgenommenen und nur die „schönsten“ veröffentlicht? Drückt sich darin nicht der Wunsch aus, von anderen Anerkennung zu bekommen? Wozu sonst dienen die „like“- oder „dislike“-Buttons in den sozialen Netzwerken?
    Auch ein nach Vollkommenheit strebender Mensch freut sich natürlich, wenn er mit seinem Verhalten anderen nicht zur Last fällt, aber der tiefste Grund seines Selbstwertgefühls ist es, sich von Gott geliebt zu wissen. Eine Liebe, die ihm schon zugesprochen war, bevor er konkret ins Dasein trat. Selbst wenn alles um ihn ins Wanken geriet, diesen Halt hat der Heilige nie verloren. Nur so konnte er die schwierigsten Situationen seines Lebens meistern.
  4. Wer nach Perfektion strebt, fängt an, in seinen Gedanken um sich selbst zu kreisen. Er ist ständig mit der eigenen Perfektion und deren Außendarstellung beschäftigt. Vom Narzissten unterscheidet den Perfektionisten, dass er sich seiner Mängel bewusst ist, darunter leidet und bemüht bleibt sie zu beheben. Dem Narzissten fehlt dieser Realitätsbezug, er nimmt oder will das Fehlerhafte seines Lebens nicht mehr wahrnehmen.
    Wer sich um christliche Vollkommenheit bemüht, der kreist in seinem Denken um Gott. Er findet im Alltag ganz unverkrampft ständig neue Anlässe und Möglichkeiten, sich die Beziehung zu Gott bewusst zu machen. Alles erinnert ihn an seinen Schöpfer und Erlöser. Er lässt sich von den irdischen Dingen immer weniger von Gott ablenken.
  5. Wer nach Perfektion strebt, hat eine optimierte Zeiteinteilung. Er tut sich schwer, wenn zusätzliche Aufgaben allzu überraschend an ihn herangetragen werden. Denn dadurch werden seine perfekten Pläne durchkreuzt. Er reagiert meist hart und ablehnend auf derartige Ansinnen. Seine Pläne sind ihm wichtiger als die Gemeinschaft oder Gesellschaft.
    Ein nach christlicher Vollkommenheit strebender Mensch setzt seine Pläne nicht absolut und ist auch bereit, Zeit für andere zu verlieren. Er reagiert gütig und überlegt, ob die an ihn herangetragenen Aufgaben berechtig und in seinen Zeitplan integrierbar sind. Der Sinn für die Gemeinschaft oder Gesellschaft überwiegt den Eigennutzen.
  6. Die Folge des Perfektionismus ist entweder die Selbstzufriedenheit, wenn etwas gelungen ist, oder Ungeduld und Frustration, im schlimmsten Fall der Burnout, wenn es nicht so läuft, wie es geplant war. Wer alles perfekt machen will, wird ein mit Äußerlichkeiten beschäftigter Mensch. Dieser Mensch freut sich über den eigenen „Glanz“ oder er kapituliert vor der eigenen Fehlerhaftigkeit und jener der Welt.
    Die Folge des christlichen Vollkommenheitsstreben ist die Dankbarkeit, wenn etwas gelungen ist, oder die Gelassenheit, wenn die Dinge sich nicht so entwickeln wie erhofft. Weil der Mensch sich mehr und mehr vor Gott einfindet, führt das Vollkommenheitsstreben zu Innerlichkeit und Glück. Der Mensch freut sich an der Ehre Gottes.
  7. Der Perfektionismus speist sich vom Stolz und führt, weil er eine unerreichbare Utopie und Illusion vor Augen stellt, im Extremfall zum Hass gegen sich und die anderen. Dieser Mensch neigt dann dazu, alles über Bord zu werfen.
    Die christliche Vollkommenheit speist sich aus der Demut, dem Eingeständnis der eigenen Schwächen und dem Bewusstsein, aus der Barmherzigkeit Gottes zu leben. Weil der Mensch seine Schwächen und die Barmherzigkeit Gottes in seinem Leben erfährt, kann er auch dem fehlerbehafteten Nächsten verzeihen.

Wie schon gesagt, in unserem Leben gibt es nur selten ganz schwarz und ganz weiß. Meist bewegen wir uns in mehr oder weniger grauen Bereichen. Und aus christlicher Sicht kann es ja auch nicht das Ziel sein, bewusst Fehler oder keine Pläne zu machen, nicht am eigenen Verhalten zu arbeiten.

Was aber sollten dann die Ziele Ihres Lebens sein?

  1. Bleibe Sie sich bei all Ihren Bemühungen bewusst, dass Sie ein fehlbare Mensch sind und jeden Augenblick aus dem Erbarmen Gottes und des Nächsten leben.
  2. Stimmen Sie Ihr Herz immer wieder dankbar gegenüber Gott. Alles was Gott uns gegenüber tut, ist unverdient (auch wenn Gott unser Mittun erwartet). Alles, was wir Gott anbieten können, stammt von ihm, dem Schöpfer aller Dinge und des Lebens.
  3. Machen Sie Ihr Selbstwertgefühl nicht von den Erwartungen, Urteilen der Menschen abhängig. Rufen Sie sich immer wieder in Erinnerung, dass Sie bereits geliebt waren, bevor Sie im Schoß ihrer Mutter empfangen wurden. Gott hat ein absolut grundsätzliches JA zu Ihnen gesprochen, sonst wären Sie nicht da.
  4. Durchbrechen Sie das Kreisen der Gedanken um sich selbst bewusst, wenn Sie sich dessen bewusst werden. Schließen sie die Augen, versuchen Sie für ein paar Sekunden im Herzen still zu werden und schicken Sie Gott in der Stille ihres Herzens ein Dankeschön nach oben.
  5. Machen Sie sich bewusst, dass eine nur zeit- und gewinnoptimierte Welt kalt und unmenschlich wird. Nehmen Sie sich gezielt vor, immer wieder einmal für einen anderen Menschen Zeit zu verlieren.
  6. Werden Sie sich bewusst, dass christliche Vollkommenheit auf Erden weniger in Ihrer Fehlerlosigkeit, sondern mehr in Ihrer Dankbarkeit gegenüber ihrem Schöpfer und Erlöser zum Ausdruck kommt. Leben Sie aus dieser Dankbarkeit und schenken Sie diese immer wieder weiter.
  7. Machen Sie sich bewusst, dass Demut nicht bedeutet sich klein zu fühlen oder klein zu sein. Denn dann hätte Jesus Christus nicht sagen können: Ich bin gütig und demütig von Herzen (Mt 11,29). Jesus Christus war nicht klein und hat sich nicht klein gefühlt. Demut heißt, wenn wir auf Jesus Christus schauen, sich klein machen aus selbstloser Liebe für andere. Setzen Sie bewusste Akte, wo Sie sich aus Liebe klein machen für andere.

Sie werden erfahren, dass das Mühen um christliche Vollkommenheit Ihr Leben begleitet und verändert.

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