23. November 2024

Krisen, Zweifel – und unerschütterliches Gottvertrauen

Gegenseitige Ermutigung in dunklen Zeiten

Hirtenwort des Bischofs Dr. Bertram Meier für Sonntag, den 25.09.2022

Liebe Schwestern und Brüder!

Eine Krise jagt die andere: Corona-Pandemie, Ukraine-Krieg, Energie- knappheit, Sorge vor Inflation und Rezession, der Klimawandel, der eine vom Menschen verursachte Klimakrise ist. Selbst die Demokratie scheint „angezählt“. Viele haben Angst vor der Zukunft. Von der Krise als Chance zu sprechen, klingt zu oberflächlich. Wir müssen tiefer bohren: Ist der Krisenmodus unsere künftige Lebensform? Kann der Katastrophenfall zur Normalität werden? Wie gehen wir damit um, wenn uns Medien und Internetplattformen von einer negativen Schlagzeile zur nächsten hetzen? Ist das auf Dauer auszuhalten? Fragen über Fragen.

Früher galt noch die Hoffnung: Wenn die Welt auch bebt, die Kirche steht. Sie ist der Fels in der Brandung. Das war einmal. In der Kirche selbst ist vieles ins Wanken geraten. Das Schiff der Kirche bewegt sich derzeit auf schwerer See: Von außen bläst ihr der Gegenwind derer ins Gesicht, die sie kleinmachen und kleinschreiben wollen, die ihre Rolle in der Gesellschaft als Privileg sehen, das aus der Zeit gefallen sei; von innen droht sie über eigenes Versagen zu stolpern und in den Strudel verschiedener Strömungen hineingezogen zu werden, an deren Gegensätzen die Einheit kippen könnte. Was sollen wir tun? Guter Rat ist teuer.

Meine heutigen Gedanken sind kein Patentrezept. Als Bischof bin ich ein Glied des Volkes Gottes. Die Fragen, die in der Luft liegen, sind auch die meinen. Vielleicht beschreiben die Krisen, mit denen wir konfrontiert sind, weniger eine Zeit fertiger Antworten als vielmehr eine Phase intensiven Fragens.

„Ich glaube! Aber hilf mir, dass ich nicht zweifle!“ So interpretierte Alister McGrath – ein Theologieprofessor in Oxford, der als Atheist aus

der Naturwissenschaft zum christlichen Glauben fand – die uns geläufige Formel: „Ich glaube; hilf meinem Unglauben.“ (Mk 9,24)1 Wir kennen den Namen des Mannes nicht, der einst diese denkwürdigen Worte an Jesus richtete. Wer immer er auch war, jedenfalls drücken seine Worte die Ängste und Unsicherheiten aus, die auch viele von uns gerade umtreiben. Die Krisen bringen ans Licht, was schon länger im Untergrund schwelte. Vielfach wurde Glaube einfach übernommen – aus Gewohnheit, aus Tradition, weil er zur Kultur gehörte. Doch ist der Glaube an Gott wirklich zu einem Teil von mir geworden? Habe ich ihn mir tatsächlich zu eigen gemacht – oder ihn nur übergestreift wie das Taufkleid, das mir einst angezogen wurde? Wie wetterfest ist mein Glaube?

Bohrende Fragen stehen im Raum. Wir leben nicht nur in einer Kirchenkrise, wir erleiden eine Glaubenskrise – auch in der Kirche. Kann man den „Kirchenleuten“ wirklich glauben? Kann ich Jesus und dem Evangelium vertrauen? Ist es nicht zu schön, um wahr zu sein? Interessiert sich Gott für mich? Hat er mich gern? Kann ich mich für Gott nützlich machen? Aus Gesprächen weiß ich: Tief im Herzen machen sich viele Christen darüber Sorgen; oft schämen sie sich deswegen. Und die nagenden Zweifel werden unterdrückt. Doch die Fragen bleiben.

Es ist erstaunlich, wie schwer wir uns tun, über Zweifel zu reden. Manche wollen erst gar nicht über Zweifel nachdenken. Solch eine Haltung ist durchaus verständlich: Einerseits könnte man das Eingestehen von Zweifeln als Zeichen von Schwäche deuten, andererseits werden Zweifel selbst in Gesprächen mit Angehörigen und Freunden kaum thematisiert, denn das könnte sie verwirren oder gar ihrem Glauben schaden. Daher rate ich: Gehen wir transparent und konsequent mit unseren Zweifeln um! Wer glaubt, darf auch zweifeln.

Allerdings sollte klar sein, was echte Zweifel kennzeichnet. Zweifeln bedeutet etwas Anderes als Skeptizismus – die bewusste Entscheidung, grundsätzlich alles, was mir vor Augen kommt, in Frage zu stellen. Ebenso unterscheidet sich Zweifeln vom Unglauben – der Haltung, nicht an Gott glauben zu wollen. Unglaube ist ein Willensakt, keine Verständnisschwierigkeit. Glaube und Zweifel schließen einander nicht

aus, Glaube und Unglaube aber schon. Zweifeln gehört sogar in den Glauben hinein. Das sehen wir am Apostel Thomas, der den Spitznamen „Zweifler“ trägt und erst mühsam und über Umwege in denOsterglauben hineingewachsen ist. Zweifel sind geistliche Wachstums- schmerzen, damit der Glaube gefestigt wird.

Glauben ist stets ein Wagnis. Denn Gott ist kein Lehrsatz, sondern ein Du, eine Person, ein Gegenüber, dem ich mich stellen muss. Sich für Gott zu öffnen erfordert bereits einen Akt des Vertrauens. Andererseits ist es auch eine bewusste Entscheidung, sich zu verschließen und nicht glauben zu wollen. Keines von beiden gründet auf absoluter Gewissheit – und soll es auch gar nicht. „Den Sprung in den Glauben kann mir niemand abnehmen“ (Sören Kierkegaard). Glaube ist kein Fürwahrhalten ohne Beweis, sondern Vertrauen ohne Vorbehalt: Vertrauen auf einen Gott, der sich für andere bereits als vertrauenswürdig erwiesen hat und auch mich durchs Leben begleiten will.

Wo der Verstand nicht weiterkommt, sollen wir aber auch nicht ins andere Extrem verfallen und uns nur den Gefühlen überlassen. Daueraufregung hilft nicht weiter. Bewahren wir einen kühlen Kopf, Panikmache ist fehl am Platz. Besonnenheit und Selbstbeherrschung sind angesagt. Paulus rät: „Wir sollen nicht mehr unmündige Kinder sein, ein Spiel der Wellen, geschaukelt und getrieben von jedem Widerstreit der Lehrmeinungen, im Würfelspiel der Menschen, in Verschlagenheit, die in die Irre führt.“ (Eph 4,14) Bei allem Schatten, der über der Kirche liegt, haben wir exzellente Empfehlungsschreiben, die für den Glauben sprechen: „eine Wolke von Zeugen“ (Hebr 12,1),bekennende Christinnen und Christen, viele bekannte und noch mehr unbekannte Heilige.

Zwar bin ich kein Prophet, doch ich wage einen Blick in die Zukunft. Der Kirche wird manches genommen werden: Geld, Personal, Immobilien, besondere Rechte. Bleiben die Lichter ausgeschaltet, ist das für mich ein Fingerzeig. Dunkle Kirchen kündigen schwere Zeiten an. Es kann ungemütlich werden. Auch wenn wir den Gürtel enger schnallen müssen, Eines dürfen wir uns nicht nehmen lassen: unerschütterliches Gottvertrauen. Es macht krisenfest. Es trägt. Es lädt den seelischen Akku auf. Davon bin ich überzeugt.

In mir klingen die Worte nach, die Papst Franziskus mitten in der Coronakrise gesprochen hat. Wir kennen die Bilder, die um die Welt gingen: Am 27. März 2020 betete der Papst auf dem Petersplatz – er ganz allein, bei strömendem Regen, stellvertretend für die Stadt Rom und den Erdkreis. Er sagte: „Seit Wochen scheint es, als sei es Abend geworden. Tiefe Finsternis hat sich auf unsere Plätze, Straßen und Städte gelegt; sie hat sich unseres Lebens bemächtigt. Wir sind verängstigt und fühlen uns verloren. Wie die Jünger wurden wir von einem unerwarteten heftigen Sturm überrascht. Uns wurde klar, dass wir alle im selben Boot sitzen, alle schwach und orientierungslos sind. Alle sind wir dazu aufgerufen, gemeinsam zu rudern, alle müssen wir uns gegenseitig beistehen. (…) Der Sturm legt unsere Verwundbarkeit bloß und deckt jene falschen und unnötigen Gewissheiten auf, auf die wir bei unseren Plänen, Projekten, Gewohnheiten und Prioritäten gebaut haben. Er macht sichtbar, wie wir die Dinge vernachlässigt und aufgegeben haben, die unser Leben und unsere Gemeinschaft nähren,erhalten und stark machen. (…) Mit dem Sturm sind auch die stereotypen Masken gefallen, mit denen wir unser ‚Ego‘ in ständiger Sorge um unser eigenes Image verkleidet haben; (…) Wir habenunerschrocken weitergemacht in der Meinung, dass wir in einer kranken Welt immer gesund bleiben würden. (…) Du, Herr, rufst uns auf, diese Zeit der Prüfung als eine Zeit der Entscheidung zu nutzen. (…) Der Anfang des Glaubens ist das Wissen, dass wir erlösungsbedürftig sind. Wir sind nicht unabhängig, allein gehen wir unter. Wir brauchen den Herrn so wie die alten Seefahrer die Sterne. Laden wir Jesus in die Boote unseres Lebens ein. Wie die Jünger werden wir erleben, dass wir mit ihm an Bord keinen Schiffbruch erleiden.“

Welch existentielle Wahrheit in diesen Gedanken liegt, zeigte mir eine dienstliche Reise, die mich im Sommer nach Polen führte – in ein Land, das sturmerprobt ist. Zwei Erlebnisse, die unterschiedlicher nicht sein können, haben mich tief bewegt: der Besuch in Auschwitz anlässlich des 80. Todestages der hl. Edith Stein und der Gebetsmoment im Hungerbunker des hl. Franziskaners Maximilian Kolbe sowie die beein- druckende Fußwallfahrt zur Schwarzen Madonna nach Tschenstochau, zu der 10.000 vorwiegend junge Pilgernde gekommen waren. Beide Orte gehören zusammen. Tschenstochau ist das geistliche Herz Polens, das in Auschwitz pulsiert bis zur Hingabe des eigenen Lebens.

Hingabe ist der Maßstab, mit dem die Kirche steht und fällt. Jetzt ist die Zeit für eine Reform der Herzen: Nur die Liebe zählt. Das hat schon Petrus in Jerusalem gepredigt: „Kehrt um und tut Buße, damit eure Sünden getilgt werden und der Herr Zeiten des Aufatmens kommen lässt“ (Apg 3,19f). Neutrale Glaubensinformation reicht nicht, die Glaubwürdigkeit des Lebens ist gefragt, das Zeugnis, die Martyria. Auch der hl. Bruder Klaus, zu dem heuer wieder viele Mitglieder des katholischen Landvolks zu Fuß nach Flüeli in den Ranft gepilgert sind, war sich dessen bewusst. Darum hat er täglich gebetet:

Mein Herr und mein Gott,
nimm alles von mir,
was mich hindert zu dir.
Mein Herr und mein Gott,
gib alles mir, was mich fördert zu dir. Mein Herr und mein Gott,

nimm mich mir und gib mich ganz zu eigen dir.

Ein solches Gottvertrauen erbitte ich Euch, liebe Schwestern und Brüder, mit besten Segenswünschen für uns alle!

Augsburg, zum 25. September 2022, dem Gedenktag des hl. Bruder Klaus

+ Bertram
Bischof von Augsburg

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1 Alister McGrath, Zweifeln. Der Thomas in jedem von uns. Gott ist größer, als man denkt. (Englisches Original: Doubt in Perspective 2006), Hänssler Verlag Holzgerlingen 2007, S. 11.